Die Wahl
Dass die Partei Einiges Russland – Putins Kraft im Parlament – die Mehrheit der Sitze kontrollieren wird, ist so gut wie sicher. Interessant wird eher, ob es der Partei gelingt, ihre Zweidrittelmehrheit zu verteidigen. Die braucht der Kreml um, wenn nötig, Verfassungsänderungen durchzusetzen. Die Partei steht gerade in den Umfragen schlechter da als vor den letzten Parlamentswahlen 2016. Damals lag sie bei etwa 40 Prozent, heute kommt sie nur noch auf knapp 30 Prozent. Es wird deshalb nicht leicht, eine ähnlich komfortable Mehrheit zu erreichen – zumindest wenn alles mit rechten Dingen zugehen sollte.
Wahlfälschungen kommen in Russland immer wieder vor. Da gibt es diese genannten Methoden, mit denen WählerInnen zum Beispiel mehr als einmal ihre Stimme abgeben, oder den ziemlich weit verbreiteten Druck von Arbeitgebern auf Angestellte, zur Wahl zu gehen und die „richtige“ Entscheidung zu treffen – aber es gibt auch Fälschungen, die erst nach der eigentlichen Stimmabgabe stattfinden, und zwar bei der Zählung und beim Aggregieren der Ergebnisse.
Das alles ist nicht unerheblich, aber noch wichtiger ist, was vorher passiert: Dass nämlich wirklich oppositionelle Parteien und Kandidaten gar keine Chance erhalten, überhaupt an den Wahlen teilzunehmen. Sogar die Kommunistische Partei, eigentlich ein Teil der relativ zahmen, so genannten systemischen Opposition, ist davon betroffen: Kürzlich schlossen die Wahlbehörden Pawel Grudinin – einen beliebten Unternehmer und Präsidentschaftskandidaten von 2018 – von der Wahl aus. Von Alexej Nawalny und seinen Anhängern gar nicht zu reden (siehe unten).
Die Wahl erstreckt sich über drei Tage – die Abstimmung über die geänderte Verfassung, die unter Pandemiebedingungen im Juni 2020 stattfand, war die erste, die ebenfalls so lange dauerte. Die Begründung dafür war und ist der Infektionsschutz, doch es liegt nahe, dass auch andere Faktoren dabei eine Rolle spielen: So fällt es durch die Streckung sehr viel schwerer, genügend Wahlbeobachter zu mobilisieren. Die Konsequenz ist, dass Fälschungen am Wahltag potentiell leichter durchzuführen sind. Auch die Einführung einer Online-Wahlmöglichkeit in einigen Regionen wird von manchen kritisch betrachtet – denn auch dabei wird die unabhängige Kontrolle erschwert. Schließlich finden die Wahlen auch noch ohne internationale Beobachter der OSZE statt: Die Organisation entschied sich, auf die Entsendung zu verzichten, nachdem russische Behörden die Anzahl der zugelassenen Beobachter auf 60 eingeschränkt hatte, was laut OSZE weit unterhalb der erforderlichen Anzahl liegt.
Russland erkennt die beiden Republiken nicht an, das heißt offiziell sind die Menschen dort im Ausland. Doch auch Menschen im Ausland können an Wahlen teilnehmen, sofern sie Staatsbürger sind. Etwa 600.000 Personen, die im ukrainischen Donbass leben, haben die russische Staatsbürgerschaft, auch weil Russland dort in den vergangenen Jahren viele Pässe verteilt hat. Und niemand von ihnen muss zum Wählen in eine russische Botschaft gehen – das geht bequem übers Internet. Da die meisten Leute aus diesen Regionen den Kreml unterstützen (viele der anderen sind mittlerweile in die ukrainisch kontrollierten Gebiete abgewandert), wird sich Einiges Russland hier über wertvolle Zusatzstimmen freuen können.
Sicher: Russland ist eine Autokratie. Aber es ist die eine Sache, Wahlen so zu manipulieren, dass es keinen echten politischen Wettbewerb mehr gibt – und eine ganz andere, sie einfach abzuschaffen. Das könnte schon erheblichen Widerstand provozieren. Es wäre aber auch gar nicht im Interesse des Kreml, denn Wahlen zu gewinnen ist ein wichtiger Teil der Machtstabilisierung: Nach außen verschafft es der Regierung ein wenig Legitimation, nach innen sendet es das Signal, dass Putins System unbesiegbar ist.
Die politische Landschaft
Zu den autokratischen Elementen gehört auch genau diese immer schärfere Einschränkung der freien Berichterstattung und Meinungsäußerung. Nicht nur die politische Opposition wird sukzessive handlungsunfähig gemacht, auch Medien müssen aufgeben. Und es gehen mittlerweile Menschen für Beiträge in den Sozialen Medien hinter Gitter – nicht massenhaft, aber ausreichend um deutlich zu machen, dass Widerstand sehr gefährlich sein kann.
Ja. Es gibt weiterhin unabhängige KandidatInnen, die für die Duma kandidieren und versuchen, die immensen formellen Hürden und informellen Blockaden zu überwinden – zum Beispiel der Nationalist Roman Juneman oder die Liberale Marina Litwinowitsch, die für Jabloko antritt.
Und auch in den so genannten systemischen Oppositionsparteien gibt es einzelne, die wirklichen politischen Wandel wollen. Diese werden meist jedoch nur so lange geduldet, wie sie keine Gefahr darstellen. In den letzten Monaten hat der Kreml unmissverständlich klargemacht, dass man bereit ist, auch offene Repression in großem Maßstab anzuwenden, wenn das nötig werden sollte.
Es gibt hier unterschiedliche Tendenzen. Je weniger Alternativen zur Verfügung stehen, desto eher werden die etablierten Parteien KPRF und – zu einem geringeren Grad – auch SR und die LDPR Proteststimmen erhalten. Dies ermutigt manche ParteiaktivistInnen, sich deutlicher gegen Putin auszusprechen – und zieht dann oft Konsequenzen nach sich. Ein Beispiel dafür ist das wahrscheinlich politisch motivierte Korruptionsverfahren gegen einen Abgeordneten der KPRF aus Saratow, der sich für die Proteste um Nawalny im Januar ausgesprochen hatte. Doch die Führungen der drei Parteien der System-Opposition sind weiterhin eng mit dem Kreml verbunden und werden erst einmal keine radikalen Schritte wagen.
Ja, durchaus. Insbesondere die KPRF hat durchaus das Potential, wieder zur echten Oppositionspartei zu werden, wie sie es in den 1990er Jahren war. Erstens hat sie eine funktionsfähige Parteistruktur, die überall im Land schnell Unterstützung mobilisieren kann – inklusive Straßenprotest, wie man zum Beispiel bei den Protesten gegen die Anhebung des Rentenalters 2018 gesehen hat.
Zweitens galt sie zwar lang als die politische Heimat sowjetnostalgischer Rentner auf dem Land, hat sich aber in den letzten Jahren auch für jüngere, urbane ProtestwählerInnen geöffnet, was sich auch positiv auf ihre aktuellen Umfragewerte auswirkt (diese liegen aktuell bei etwa 17 Prozent, das sind fünf bis sechs Prozentpunkte mehr als zu Beginn des Jahres).
Und drittens werden auch die Tage der alten Parteiführung irgendwann gezählt sein, sodass sich die Partei neu wird ausrichten müssen. Sollte die Unterstützung für Putin weiter schwinden, könnte sich aber sogar der kremlloyale KPRF-Parteichef Gennadi Sjuganow überlegen, ob es sich für ihn lohnen könnte, von Putin deutlicher abzurücken.
Das Parlament setzt sich aus zwei Blöcken zusammen. Die Hälfte der Sitze wird über Parteilisten vergeben, die andere Hälfte über Direktmandate; jeder Bürger hat also zwei Stimmen. Das ist wichtig, weil der zweite Teil der Sitzverteilung – der über Direktmandate – für den Kreml umso entscheidender wird, je geringer der Stimmanteil für Einiges Russland über die Parteilisten ausfällt.
Hier setzt Alexej Nawalnys „kluges Wählen“ an: Die Stimmen der oppositionellen WählerInnen sollen auf eine einzige Kandidatin pro Wahlkreis konzentriert werden, die dann insgesamt mehr Stimmen erhält als der Konkurrent von Einiges Russland. So soll die Dominanz der Kremlpartei gebrochen werden. Das setzt allerdings voraus, dass zum Beispiel liberal eingestellte oppositionelle WählerInnen auch einen Stalinisten wählen, sollte sich dieser (aus Sicht von Nawalnys Team) als der aussichtsreichste Kandidat im Wahlkreis erweisen. Das macht längst nicht jeder mit.
Nawalny hat seit jeher auf Social Media gesetzt, in letzter Zeit insbesondere auf Youtube. Das tut sein Team weiterhin. Seine Webseiten sind jedoch mittlerweile größtenteils gesperrt, Behörden gehen auch gegen seine App vor, die die Wahlempfehlungen koordinieren soll. Und ganz grundsätzlich ist diese Taktik darauf angewiesen, dass Menschen aktiv nach Informationen darüber suchen, denn in den Massenmedien kommt sie natürlich nicht vor. Doch sogar das wird schwieriger: Auf Anordnung von Roskomnadsor, der Regulierungsbehörde für Medien, löschte kürzlich die russische Suchmaschine Yandex alle Suchergebnisse, die auf die gesperrten Webseiten zum „klugen Wählen“ hinweisen. Selbst die Online-Suche wird damit erheblich erschwert. Das alles zeigt, wie ernst es den Behörden damit ist, diese potentielle Gefahr auszuschalten.
Die gesellschaftliche Stimmung
Die Dumawahlen ziehen traditionell weniger Menschen an als die Präsidentschaftswahlen. Das liegt sicher auch daran, dass die Duma bei vielen als Versammlung korrupter und untätiger Opportunisten gilt – sie gehört zu den Institutionen mit dem geringsten Vertrauen in der Bevölkerung. Damit ist Russland nicht allein, doch die Dominanz des Präsidialamtes in der Verfassung trägt auch dazu bei, dass die Duma als politische Gewalt zweiter Klasse gesehen wird. Dies ist den Regierenden jedoch gar nicht so unrecht, denn wenn insbesondere kritische Wähler aus Protest gegen die Institution des Parlaments fernbleiben, dann wird es umso leichter, eine satte Mehrheit für Einiges Russland zu organisieren – sogar ohne große Fälschungen.